Genius Loci Episode 4
Vital Lies: Studies of Some Varieties of Recent Obscurantism
Kunstverein Ludwigshafen
23.08. – 26.10.2025 

Sophie Jung (*1982, lebt und arbeitet in London und Basel) inszeniert die Abgusssammlung der Universität Mainz als Abfolge von Szenen, in denen sich antike Ideale, fragile Rekonstruktionen und alltägliche Objekte zu neuen Erzählungen verbinden. Den Auftakt bildet das Ensemble um die Arbeit the prey. Das Ensemble entfaltet sich wie ein Theater: vorne Athena, rechts Diana, links der Apollo Belvedere, der über Jahrhunderte als Inbegriff männlicher Schönheit diente und von Dürer bis Michelangelo bewundert wurde. Athena Lemnia lenkt die Besucher:innen: dunkel gefasst, dem Schimmer einer Bronze nachempfunden, erhebt sie den Arm und verweist auf Jungs erste Arbeit: the prey. Die Geste lenkt den Blick auf eine skulpturale Beute – ein aufgetürmtes Polyestertuch, durchsetzt von spitzfindigen Details, brüchig und spielerisch zugleich.

Auch die Athena selbst trägt die Spuren von Brüchigkeit und Erfindung: Ursprünglich ein Werk des Phidias im 5. Jahrhundert v. Chr., ist sie nur in Rekonstruktionen überliefert. Adolf Furtwängler kombinierte 1893 einen Kopf aus Bologna mit einem Körper aus Dresden, ergänzte Arme, Hände, Helm und Lanze und schuf so ein scheinbares Ideal. Das Werk wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, lebt aber in einem Bronzenachguss in Stettin fort. Fragmente und Fantasien verschmolzen zu einer Figur, die dem Auge wie ein „Original“ erscheint – ein Paradox, das Jung in ihrer Arbeit spielerisch offenlegt.

In the prey begegnen den Besucher:innen eine gelbe Polyesterdecke, eine Porzellanschnecke und ein echtes Rehkitzfell, das direkt auf die hinter ihr thronende Diana von Versailles verweist. Diana, Göttin der Jagd, erscheint seit der Antike mit Reh: Beschützerin und Jägerin zugleich. In Jungs Arbeit wirkt das Fell wie eine Spur von Unschuld und Opfer – eine Beute, die Athena selbst zu präsentieren scheint. Als humorvolle Brechung fügt Jung zudem eine abgefallene Nase aus der Sammlung ein, eine kleine Geste, die auf die Fragilität der scheinbar ewigen Idealbilder verweist. Zwischen diesen Figuren setzt Jung alltägliche Dinge in Szene, die sich mit antiken Gesten verweben. Monumentalität und Kitsch, Humor und Ernst, Vergänglichkeit und Dauerhaftigkeit verschränken sich zu einer zeitlosen Sprache, die die Sammlung zugleich reflektiert und neu belebt.

Der Weg führt weiter, hinaus aus diesem klassischen Bühnenbild, in die Schatten des Kellers. Dort lugt ein Fisch-Wippspielzeug mit Zorro-Maske schelmisch um die Ecke. Eine herabhängende Lüftungsklappe verrät den Wasserschaden des Raumes, den Jung mit getrockneten Seepferdchen kommentiert, während „Neptun Balls“ wie ein treuer Hund am Boden liegt. Hier spielen nicht die Götter, sondern ihre vergessenen Begleiter: Figuren im Schatten, oft übersehen, doch mit eigener Agenda, tückisch und komisch zugleich. Eine Büste mit Maske fügt sich hinzu – neuer Charakter oder nur passives Spielzeug? Mit wenigen Handgriffen verleiht Jung der Büste eine Stimme und einen eigenen Tonfall.

Dann öffnet sich der Raum zu einer Szene voller Dramatik. Diana, ein Reiterstandbild aus Alltagsmaterialien, dominiert den Saal. Ein umgestülpter Fetteimer wird von einem Gartenstuhl geritten, Lanzen durchbohren das Ensemble. Eine Camel-Schachtel trägt ein diabolisches Gummitier, dass das Fell eines erlegten Stofftiers um die Schultern trägt. Gewalt, Ironie und Spiel verweben sich. Hinter dieser Arbeit spannt sich der Abguss der Gigantomachie vom Pergamonaltar auf: Athena und Nike im Kampf, Gaia, die aus der Erde steigt und fleht. Wieder begegnet uns Athena, ihr Schild bildet den Hintergrund zu Jungs Lanzen. Die ringenden Körper des Frieses spiegeln die Wucht und Emotionalität der Arbeit. Die Gipsfiguren ringsum wenden den Besucher:innen den Rücken zu, ihre Blicke auf die Szene gerichtet. Sie sind stille Zeugen, stummes Publikum einer Gewalt, die sich in Vergangenheit und Gegenwart fortschreibt.

Jungs letzte Inszenierung ist eine stille, fragile Geste: in a cozy little fire lehnt ein Foto von arbeitenden Frauen in Italien, von zwei Eisenstangen an die Wand gedrückt, hinter einem Gartenstuhl. Darauf liegt ein Kopffragment: im stillen Terror erstarrt, der Mund zu einem endlosen Schrei verzogen. Davor eine Prozession von Figuren, eine Parade, deren Blicke sich kreuzen und doch ins Leere laufen. Sie wirken wie Schaulustige, die interagieren und zugleich einsam verharren. So führt Sophie Jung durch eine Abfolge von Szenen, in denen Fragmente, Ideale und Alltagsgegenstände in immer neue Rollen treten. Göttinnen und Helden, Nebenfiguren und Objekte verschmelzen zu einem Theater, das zwischen Humor, Kitsch und Scharfsinn changiert – und der Abgusssammlung eine unerwartete Stimme verleiht.

Ilê Sartuzi (*1995, lebt und arbeitet zwischen London und São Paulo) verbindet in seinen Arbeiten Video, mechatronische Apparaturen und theatrale Settings. Besonders seine Videoarbeiten stellen die Frage nach der Konstruktion von Bildern und ihrer Macht, den Vorstellungen von Körper, und wie diese Geschichte und Kanon prägen. Im Kontext der Abgusssammlung gewinnen diese Arbeiten besondere Schärfe. Die Gipsabgüsse klassischer Skulpturen verkörpern das westliche Ideal des Körpers: glatt, vollständig, normierend. Sie zeigen ausschließlich Oberfläche, nie das Innere, und bekräftigen damit eine hierarchische Ordnung, in der das „Kanonische“ unberührt und erhaben bleibt.

Sartuzis Videos dagegen legen Brüche und Mechanismen offen. Sie verschieben den Fokus vom repräsentierten Ideal zur Infrastruktur, von der glänzenden Oberfläche zum Prozess ihrer Konstruktion. Indem er virtuelle Körper fragmentiert, Bildschichten überlagert und mechanische Träger sichtbar macht, unterwandert er die museale Rhetorik der Vollkommenheit. Seine Arbeiten zeigen, dass jede Form der Darstellung – ob Gipsabguss oder Videoprojektion – ein künstliches Gefüge ist, das Hierarchien herstellt.

Im linken Teil der Sammlung stehen sich Panos Profitis (*1988, lebt und arbeitet in Athen) und Hélène Fauquet (*1989, in Frankreich, lebt und arbeitet in Paris) gegenüber. Zwischen drei fragmentierten Kopfskulpturen entfaltet sich Profitis’ Aluminium-Relief true to his own spirit. Es rezipiert die griechische, hellenistische Antike, spielt mit der Verzerrung des antiken Kanons und verweist auf die Mechanismen, die in einer Abgussammlung omnipräsent sind: Kopien, Rekonstruktionen und Idealisierungen, die das Original in fragmentarischer und interpretierter Form bewahren. Profitis verbindet das Profil eines männlichen Porträts mit einer kauernden, dämonischen Kreatur, die dem Kopf innewohnt, und verweist – wie Itamar Gov – auf das geistige Innenleben der Skulpturen. Die Verschmelzung von Schönheit und Groteske schafft einen Dialog zwischen klassischer Ästhetik und modernen industriellen Materialien.